Pilgern für Anfänger – Muss es der Jakobsweg sein?

Zwischen Selbstvermarktung und Selbstfindung

Es wird gepilgert. Das liegt im Trend. Tendenz steigend. Inzwischen kennt bald jeder Jemanden, der den berühmtesten aller Pilgerwege – den Jakobsweg – bereits lief. Wieder zu Hause wird stolz berichtet, wie man die Anstrengungen und Entbehrungen gemeistert hat. Auch ich hatte schon die Überlegung, mich dem Camino zu stellen, entschied mich bisher aber dagegen, weil er mir einfach schon zu überlaufen vorkommt.

Bitte nicht falsch verstehen: ich will hier nichts abwerten oder schmälern. Ich finde es gut, dass wir in unserer schnelllebigen Zeit uns daran erinnern, mal auf die Bremse zu treten. Doch was sind die wahren Beweggründe hinter dem Wunsch, in Jakobs Fußstapfen zu treten?

Provokant geschrieben, denke ich, dass es zwei Gruppen von Jakobspilgern gibt.

Die, die es tun, weil es “jeder” tut. Weil es trendig ist. Weil uns nach Karibik, 5-Sterne-Hotels, Limousinenservice und First-Class-Flug nichts mehr einfällt. Weil noch ein Haken auf der Bucket List fehlt. Um zu zeigen, dass man auch mal ohne viel Geld auskommt.

Und die, die es tun, weil sie die Ruhe brauchen, um sich selbst zu finden. Um etwas in ihrem Leben zu korrigieren. Weil sie ihrem Leben eine Wendung, einen Sinn geben wollen. Weil sie ihre Ziele im Leben aus den Augen verloren haben.

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Findet man in der Einsamkeit die Ruhe und Klarheit, die man sucht?

Letztlich ist es egal was die Beweggründe sind, denn Pilgern verändert. Ob wir das nun gezielt wollen oder nicht. Es wird etwas anstoßen, es wird etwas bewegen. Ob wir neue Wege gehen hängt davon ab, ob wir bereit sind uns darauf einzulassen.

Natürlich ist es legitim hinterher von seinen Erfahrungen zu berichten und die Welt Anteil daran haben zu lassen. Die meisten werden ihre Erlebnisse mit Familie und Freunden teilen, andere bloggen, manche schreiben Bücher oder stellen sich einem Fernsehinterview. Wie weit man sich vermarkten möchte, bleibt jedem selbst überlassen. Das was im Herzen passiert ist, ist das, was zählt.

Wann bin ich ein Pilger?

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Ein pilgernder Käfer? Oder nur ein Ausgestoßener?

Muss ich wirklich den Jakobsweg laufen, um als vollwertiger Pilger anerkannt zu werden? Tut es auch ein anderer Pfad? Was bedeutet pilgern eigentlich?

Schauen wir uns dazu mal die Definition an. Das Wort selbst stammt vom lateinischen peregrinus ab und bedeutet in der Fremde sein. Im Latein der Kirche ging es darum, eine religiöse Stätte aus unterschiedlichen Gründen (Buße, Gelübde..) aufzusuchen. Dies sollte mit Entbehrungen verbunden sein.

Der Wortstamm sagt uns, dass wir alle Pilger sind, sowie wir in der Fremde sind. Das heißt, immer dann, wenn ich mich aufmache an einen mir nicht vertrauten Ort, bin ich schon ein Pilger. Ich muss weder den Jakobsweg, noch die Bonifatiusroute oder nach Mekka laufen. Ich muss mich einfach nur aufmachen und eingetretene Pfade verlassen.

Der Weg ist das Ziel

Trotzdem wird sich nicht jeder gleich als Pilger titulieren und fühlen, nur weil er mal von Hamburg nach München gereist ist. Pilgern hat neben dem reinen Verlassen der Komfortzone etwas mit Konzentration auf das Wesentliche, an die eigenen Grenzen gehen, Schranken überwinden und eben doch Entbehrungen, aber auch mit Leidenschaft zu tun.

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Kein Ende in Sicht…

Ich selbst bezeichne mich auch nicht als Pilger. Vor ein paar Jahren bin ich mal einen Teil der Bonifatiusroute von Mainz aus gelaufen. Um das Bild des klassischen Pilgers zu bedienen hätte ich es wohl einen schweren Rucksack schultern, tagelang laufen und in (möglichst schäbigen) Unterkünften nächtigen müssen bis ich letztlich entkräftet, fertig und schmutzig in Fulda im Dom meine Absolution erteilt bekommen hätte. Zumindest habe ich diese Bild von einem Pilger in meinem Kopf.

Es war ein erster Versuch meinen Gemütlichkeitsdistrikt zu verlassen. Ich bin kläglich gescheitert. Ich bin ein Weichei. Ja, ich gebe das zu. Ich schulterte nur einen Tagesrucksack, steckte mein Portemonnaie ein, lief mit Pilgerführer und Wanderkarte los und gönnte mir abends die Rückfahrt per S- und U-Bahn, um im heimischen, weichen Bett zu nächtigen. Ich fuhr am Folgetag wieder zur letzten, verlassenen Station, um von dort die nächste Etappe zu starten.

Nach drei Tagen brach ich ab. Der Weg war schlecht ausgeschildert und langweilte mich. Ich lief dann lieber den Regionalpark Rhein-Main Rundweg, der mir mehr Abwechslung und Ausblicke bot. Und dennoch bin ich, wenn man es aus der Distanz betrachtet, gepilgert. Ich lief und lief und lief. Im Schnitt 25 km pro Tag. Ich konzentrierte mich nur darauf, einen Schritt vor den anderen zu setzen und an nichts zu denken. Gedanken abschweifen lassen. Das Leben genießen. Ganz schnell sah ich auf einmal Kleinigkeiten, die mein Herz erfreuten, an denen ich immer blinden Auges vorbei geschritten war.

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Eine Distel am Wegesrand

Ich sah einsame Blümchen ihre Köpfe der Sonne entgegen recken. Ich hörte die Rufe der balzenden Hirsche. Ich roch den feuchten Duft des Waldes.

Alles eitel Sonnenschein? Ganz und gar nicht. Ich hatte Angst. Angst, mich zu verlaufen. Angst, wenn mir Menschen entgegen kamen, die ernste Gesichter machten. Angst vor unbekannten Geräuschen, die die Stille durchbrachen. Angst vor der Stille, die laut in den Ohren schmerzte, weil ich sie nicht kannte. Respekt davor, sich dem eigenen Ich zu stellen. Die Gefahr festzustellen, dass man es vielleicht mit sich selbst nicht aushält.

Nach einer Woche hatte ich den Rundweg bezwungen. Ich hatte mich meinen Ängsten gestellt. Teils hatten sie sich als unbegründet erwiesen, teils habe ich sie überwunden und teils blieben sie ein Teil von mir. Bis heute. Die Auswirkungen merkte ich erst viel später. Langsam und schleichend. Mich infizierte ein Virus. Der Virus des Reisens. Der Wunsch weiter zu machen. Schauen, wieviel Ängsten ich mich lachend entgegen stellen kann. Ich hatte etwas angestoßen, aber ich war noch nicht auf dem gefestigten Pfad, den ich erreichen wollte. Und ich verfiel zurück in alte Muster. Ich verlor den Weg aus den Augen und begab mich zurück ins Hamsterrad.

Mache dich auf, deine eigene Seele, deine Sehnsucht und deine Leidenschaft zu erforschen

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Biete deiner Seele und deiner Leidenschaft eine Plattform, wie und wo auch immer…

Dann kam der Punkt 2015, wo ich am Rande meiner seelischen Kapazitäten angelangt war. Es musste eine Lösung her und die fand ich in der Reise nach Tasmanien. Diese plante und buchte ich schon fast überhastet, damit ich ja keinen Rückzieher mehr machen konnte.

Ich wurde mehrmals auf meinen Mut angesprochen, alleine in die Ferne zu gehen. Für mich hatte es nichts mit Mut zu tun, sondern war eine Notwendigkeit, mein Leben neu zu ordnen und einen Sinn zu finden – und ist das nicht der eigentliche Sinn des Pilgerns?

Für mich ging das nur weit weg von zu Hause. In der Abgeschiedenheit und Ruhe, umgeben von Natur. Mit jedem Schritt den ich tat, trat eine mikrokleine Veränderung ein und mein Gedankenchaos sortierte sich.

Ich kam zurück und ich war nicht mehr die selbe. Ich merkte es erst mit der Zeit. Ein langsamer Prozess, der mich nachhaltig veränderte und neue Perspektiven bot. Und bis heute anhält.

DAS ist pilgern für mich. Sich selbst seinem ICH stellen. Sich selbst den Spiegel vorhalten, obwohl man das Spiegelbild weder mag noch sehen will. Finde dich, in deinen Ängsten. Den Träumen. Den Zweifeln. Den Zielen. Der Suche nach dem Sinn des Lebens. Entdecke deine Leidenschaft. Lasse Herzblut durch deine Adern pulsieren. Verzichte und gewinne.

Es ist egal, ob du dreimal ums Haus läufst oder den Jakobsweg. Du kannst nach Neuseeland fliegen oder mit dem Zug nach Wanne-Eickel fahren. Hauptsache du lenkst dich nicht von dir selbst ab. Laufe zu dir selbst. In deinen inneren Kern. An deine Substanz. In dein Herz und deine Seele. Dorthin, wo es wehtut. Wo der Giftstachel sitzt, der dich nährt. Reiße ihn aus. Kitte deine Wunden. Finde Hilfe. Und wachse an dir selbst und über dich hinaus. Geh an die Grenze und überwinde sie. Gegen alle Widerstände.

Lasse dich ein auf das Abenteuer Leben

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Breite deine Flügel aus und fliege

Finde deinen eigenen Weg. Es gibt ihn nicht – DEN Weg. Er ist individuell. Vielleicht möchtest du einen klassischen Pilgerweg wie den Jakobsweg laufen, weil dort Gleichgesinnte unterwegs sind, mit denen man sich austauschen kann. Prima! Mach es.

Vielleicht ist es eine Bootstour durch Alaska oder der Kamelritt durch die Wüste. Du machst endlich einen Termin beim Psychotherapeuten aus? – auch das kann dein (Pilger)Pfad sein. Es ist unwichtig, wie du dich entscheidest. Es ist nur wichtig, dass DU dich entscheidest und den ersten Schritt machst. Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Du kommst zurück von deiner Pilgerreise. Es ist alles gleich geblieben. Und doch ist alles anders. Es ist ein Prozess. Deine Ängste, dein Zweifel und deine Unsicherheiten sind nicht sofort verschwunden, aber sie haben einen anderen Stellenwert bekommen. Du bist nicht gefeit vor Rückschlägen, aber du bist gestärkt, sie wieder anzugehen.

Wurscht, ob du der Pilger bist, der es aus Prestige, Langeweile oder “weil es Trend ist” gemacht hast oder ob du zu denen gehörst, die sich bewusst auf den Weg machten. Denn du bist du und kommst zurück als ein neues Ich.

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Eine Explosion der Gefühle erwartet dich, wenn du dich dir selbst stellst.

Update

Sabine von wortgeflumselkritzelkram hat meinen Artikel zum Anlass genommen, einen sehr persönlichen, ergreifenden Beitrag zu schreiben, wie sie gepilgert ist. Kein klassisches Pilgern, sondern die Suche nach sich selbst.

Bitte lest auch ihren Artikel und wenn ihr selbst einen Artikel verfasst, dann sagt oder schreibt es mir ruhig und ich setze einen Link. Ich finde es toll, wenn so ein Beitrag Wurzeln trägt.

© DieReiseEule 2/2017

22 Kommentare zu „Pilgern für Anfänger – Muss es der Jakobsweg sein?“

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  2. Pingback: [Bloggeburtstag] Seit 2 Jahren reist die Eule durchs Datennirvana – DieReiseEule – Von einer die auszog, um sich von der Welt verzaubern zu lassen

  3. Hallo Liane

    vor ein paar Jahren bin ich ein Stück des Jakobswegs, der von Fulda nach Mainz führt, gewandert. Von Anfang an hatte ich vor, von Fulda nach Frankfurt zu wandern, und hatte tatsächlich zeitweilig das, was Du in dem einen Absatz schreibst, im Sinn:

    “lief mit Pilgerführer und Wanderkarte los und gönnte mir abends die Rückfahrt per S- und U-Bahn, um im heimischen, weichen Bett zu nächtigen. Ich fuhr am Folgetag wieder zur letzten, verlassenen Station, um von dort die nächste Etappe zu starten.”

    Allerdings verfolgte ich dann, als es soweit war, eine andere Strategie: Wegen einer Verletzung fuhr ich ein Teil des Wegs mit der Odenwaldbahn, blieb zwei Nächte an einem Ort, um meine Verletzung auszukurieren, und wanderte dann nur noch bis Gelnhausen, wo ich bei einer Verwandten nächtigte.

    Zwischenzeitlich musste ich dann auch noch den offiziellen Jakobsweg verlassen, weil der zu jenem Zeitpunkt völlig vereist war und ein anderer Teil von ihm direkt an der Autobahn entlanglief. Also wanderte ich dann den Fernradwanderweg entlang und kam entspannt ans Ziel.

    Was ich daraus gelernt habe? Wenn’s drauf ankommt, ruhig auch mal den Mut haben, die Perspektiven und das Ziel den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und flexibel zu bleiben.

    LG
    Ulrike

    1. Hallo Ulrike,

      ich stimme dir voll zu:
      “Wenn’s drauf ankommt, ruhig auch mal den Mut haben, die Perspektiven und das Ziel den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und flexibel zu bleiben.”

      Selbsterfahrung heißt eben auch, die eigenen Grenzen zu erkennen.

      Schöne Adventszeit
      Liane

  4. Hello! Ich wollte schon ansetzen und von meiner geplanten Shikoku-Pilgerreise in Japan zu berichten nur um festzustellen, dass der Artikel dann eine ganz andere Wendung nahm und die Reise nach Innen beschreibt. Das kam überraschend und hat den Nagel auf den Kopf getroffen – Glückwunsch!

    Ich glaube ehrlich gesagt wir unterhalten uns beim Reisen über die Orte, weil es einfach ist. Es ist schön vergleichbar. Was drinnen passiert ist es oft nicht. Und ob beim Reisen etwas passiert ist nicht planbar. Ich kann in ein fernes Land fahren und der Aufenthalt ist trivial. Oder ich habe zu Hause auf dem Weg zum Bäcker auf einmal die Begegnung, die mein Leben verändert.

    Ich habe Leute erlebt, die nach ein paar Monaten im Zen Kloster genauso unzufrieden abgereist sind, wie sie gekommen waren. Und andere, die ich später wiedergesehen habe, und die auf einmal wie ausgewechselt schienen. You never know. Ich glaube, dass der Prozess der Erkenntnis manchmal ganz schön verschlungen ist und nicht gradlinig verläuft. Oder wie Krishnamurti meinte: “Truth is a pathless land.”

    Viel Erfolg jedenfalls weiterhin beim Pilgern, wo auch immer es dich hinführt! Und danke für diese Gedankenanregung!

    1. Entschuldigung, dass dein Kommentar erst heute freigeschaltet wird, aber er ist im Spam Ordner gelandet und da schaue ich nicht regelmäßig nach.
      Vielen Dank für deine Sichtweise und ja, Veränderung kann überall passieren, wenn man dafür offen ist.

  5. Pingback: Pilgern? – Wie es bei mir war | wortgeflumselkritzelkram

  6. Was für ein kluger und wahrer Artikel, danke dafür! Ich bin auch gerade auf einer Pilgerreise zu mir, in Form einer REHA. Bewusst habe ich viel alleine gemacht und irgendwann als ich da an der winterlichen Nordsee entlang ging, spürte ich reines Glück und ja, ich glaube ich habe mich verändert und vor allem habe ich gelernt, meine eigenen Bedürfnisse zu erkennen.
    Deinen Artikel werde ich auf meiner Seite teilen.
    Liebste Grüße Ela

    1. Ich wünsche dir alles Gute für deine Pilgerreise und bin mir sicher, es wird etwas passieren und sich ändern und du wirst gestärkt daraus hervor gehen.

      Das Glück liegt auf dem Weg, man muss es nur erstmal erkennen, sich bücken, aufheben und dann genießen.

      Ich freue mich, wenn du den Artikel teilst. Danke dafür.
      VG Liane

  7. Hat dies auf lebenslichtpfade rebloggt und kommentierte:
    Eine philosophische Betrachtung.
    Warum entscheidet man sich für eine Pilgerreise?
    Wann ist man ein “Vollblutpilger”? Muss ich dafür erst den Camino laufen? Was bringt es mir?
    Meine ganz eigenen Gedanken zu dem Thema – Li

  8. Liebe Liane, danke für diesen tollen Beitrag, den du dir da von der Seele geschrieben hast. Ich bin auch ganz der Meinung, dass es viele (unterschiedliche) Wege gibt, um zu sich selbst zu finden. Es muss nicht der Camino sein. Danke für deine schönen Gedanken. Liebe Grüße, Anita

    1. Hallo Anita,
      ich denke auch, es ist unwichtig, welchen Weg man wählt, Hauptsache man sammelt allen Mut und evtl. auch Frust zusammen und geht einfach mal los.
      VG Liane

    1. Gerne, Sabine.
      Ich bin auch durch Zufall auf das Thema gestoßen worden, was eigentlich gar nicht anstand. Aber ich habe es vorgezogen und die anderen Artikel schlummern in der Entwurfkiste.

  9. liebe liane:) wow das hast du so wunderbar geschrieben und du hast so viele richtige dinge angesprochen ..so tiefgründig..super super schön:)
    danke fürs teilen.
    alles liebe lisa

Hau in die Tasten! Ich freue mich sehr über einen konstruktiven Text von dir.

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